In einer Welt des Egoismus: Wie lebe ich gut?
Ein Plädoyer für Kinder
Von Markus Somm
Ich weiss nicht mehr genau, wie viele Kinder wir damals schon hatten, ob zwei oder drei, jedenfalls hatten Klara und Paul – sie waren noch sehr klein – irgendetwas getan, wovon wir nichts wussten und das wir, hätten wir es gewusst, nie gutgeheissen hätten: Plötzlich stand Klara da, und es blutete aus ihrem Mund, als hätte sie sich die Zunge ausgerissen oder den Kiefer zertrümmert. Es blutete so überraschend stark, schubweise gar, dass ich zuerst eher fasziniert hinblickte, als entsetzt. Der Schrecken kam Sekunden später. Wer Kinder hat, weiss, wie unendlich gross dieser Schrecken ist: Überlebt sie? Ich meine das keineswegs ironisch. Es gibt viele Dinge, die sich radikal ändern, wenn man Kinder bekommt. Nichts aber fühlt sich so radikal neuartig an wie die beständige Angst, die man nun auf immer mit sich herumträgt wie einen Teufel, wie einen Albtraum: Hoffentlich geschieht meinem Kind nichts.
Es ist paradox: Sobald man Kinder hat, erhält der Gedanke an den eigenen Tod etwas Leichteres und Schwereres zugleich. Selber zu sterben verliert an Dramatik, weil das eigene Leben in den Kindern und deren Kindern zu überdauern scheint – Kinder haben ist ein Mittel, von der Unvergänglichkeit zu kosten –, gleichzeitig aber darf man nun umso weniger sterben, sofern die Kinder noch klein sind und einen brauchen. Was am meisten bewegt: Man ist auf einmal jederzeit bereit zu sterben, wenn es darum ginge, das eigene Kind vor dem Tod zu retten. Jeder Mutter, jedem Vater, so glaube ich, geht es so. Nichts Schlimmeres aber gibt es als die Möglichkeit, dass das eigene Kind vor einem stirbt. Es ist die beständige, panische Angst, die ein Leben mit Kindern zur Hölle macht, weil man dem Himmel näher gekommen ist seit man Kinder hat.
Das Gegenmittel
In unserer Zeit der permanenten Optimierung individueller Lebensentwürfe wirkt dieser Ratschlag vielleicht allzu verstockt konservativ: Doch wer es irgendwie einrichten kann, wem Gesundheit und Glück das erlauben, dem empfehle ich Kinder. Es ist ein gigantisches Opfer – besonders für die Frauen, seien wir ehrlich –, aber auch wir Männer sind betroffen, es ist eine Arbeit, der man sich nie mehr entziehen kann, und es ist ein Auftrag, den zu verlieren man fürchtet wie nichts anderes in der Welt.
Man muss sich festlegen, es gibt kein Zurück – was manchen Menschen meiner Generation sehr schwerzufallen scheint. Alles ist relativ, alles provisorisch: Habe ich den richtigen Job – oder bin ich nicht eigentlich ein Künstler, der in New York leben sollte? Bin ich glücklich in meiner Beziehung, ob nun Ehe oder serielle Lebenspartnerschaft, oder gibt es einen Bessern oder eine Bessere? Bin ich Schweizer – oder sind wir nicht alle etwas anderes oder gar nichts? Nationale Identität als vorübergehender Selbstfindungsprozess. Was sagt mein Psychiater?
Wenn uns im Westen die Zumutungen der Gegenwart, sei es Islamismus oder Migration, Euro-Krise oder Putin, derart aus der Bahn werfen, dann auch deshalb: Weil uns das Eindeutige, das in diesen Schwierigkeiten liegt, oft auch eindeutig Böse, wenn man an den Islamismus denkt, überfordert. Ob in der Meinungsbildung oder im Lebensplan: Wir weichen lieber aus, wir legen uns nicht fest. Auf keinen Partner, keine Arbeit, keine Familie. Wir sind verliebt in das Projekt, das jederzeit abgebrochen werden kann und scheuen das pralle und schwere Leben.
Kinder – sind sie einmal geboren worden – kann man nie mehr überdenken, sie haben etwas Endgültiges, ja Ewiges. Daher mutet es inzwischen fast subversiv an sich darauf einzulassen: In einer Gesellschaft, die sich fürchtet vor den grossen Entscheiden, die auch wehtun, sind Kinder zu einem Exotikum geworden. Ein Gegenmittel, das uns vor dem Versinken im schwarzen Loch des Ungefähren bewahrt. Hier muss man sich zum Irreversiblen bekennen – und das Besondere an diesem schweren Entschluss ist: Man bedauert ihn nie, sondern wächst daran.
Von der Solidarität
Denn das ist das Zweite, was Kinder haben bedeutet: Verantwortung übernehmen für konkrete Menschen, die man kennt. Solidarisch sein mit Menschen, die man zur Rechenschaft ziehen kann, wenn sie sich der Hilfe als nicht würdig erweisen. All das sozialpolitische Geplapper, das so folgen- und kostenlos ist, weil man oft selber nicht einmal dafür bezahlt, sondern die anderen: Es ist ein Luxus, den man sich in der eigenen Familie interessanterweise nie leistet. Wer hier unterstützt wird – und man unterstützt die eigenen Kinder fast grenzenlos –, den kann man überwachen, ob er sich aus den Schwierigkeiten auch befreit. Gleichzeitig müssen Eltern die Folgen selber tragen, wenn sie ihren Kindern zu viel der Solidarität, des Verständnisses, des Geldes angedeihen lassen. Nichts Härteres haben Eltern zu erleben als die Undankbarkeit eines verwöhnten, missratenen Kindes. Manchmal gehen sie an der eigenen Schuld zugrunde. Es ist ein persönliches Opfer in einer Zeit des Egoismus, es ist ein Beispiel, das hervorragt wie ein blühender Baum in einer Wüste: Eltern verschwenden ihre Energie, geben ihr Geld aus, verzichten auf ihre Zeit, sie verlieren den eigenen Schlaf, sie verpassen die eine oder andere Reise auf die Malediven, damit es ihren Kindern gut geht. Niemand ist solidarischer und selbstloser als eine Mutter und ein Vater. Niemand ist aber auch mehr betroffen, wenn er es in dieser Hinsicht übertreibt. Kinder haben lehrt einen Demut: Nicht alles im Leben lässt sich ändern.
Wir rannten aus dem Haus, meine Frau trug die blutende Klara, während Paul an meiner Hand weinte, ich holte das Auto und fuhr es beinahe in die Wand, bis wir im Spital eintrafen, wo man Klara sofort half. – Vor Kurzem ist sie achtzehn geworden. Nun fährt sie nach Amerika. Wir freuen uns, wir machen uns Sorgen.
Quelle: Basler Zeitung / markus.somm@baz.ch